Xiaolu Guo (2017): Es war einmal im Fernen Osten. Ein Leben zwischen zwei Welten.

(c): Albrecht Knaus Verlag.

Für wex zum Lesen zu empfehlen?

Die Autobiografie von Xiaolu Guo ist ein ehrliches, tiefgehendes Schildern des eigenen Lebens von Geburt an bis in die Zeit, wo Xiaolu Guo um die 40 Jahre ist. Der Weg aus einem ländlichen China bis nach London wird in einem beeindruckenden Fluss des Wahr- und Teilnehmens erzählt. Das Buch liest sich wie ein fast unglaublicher Roman einer langen Lebensreise, so dass es schon fast unvorstellbar für eine in Westeuropa aufgewachsene Person wie mich sich liest, wie unterschiedlich Aufwachsen und Traditionen und Wege des eigenen Lebens sein können. Ich würde das Buch allen empfehlen, die etwas über Lebenswege und eigene Wahrnehmungen dazu lesen wollen, die über Prägungen in Kindheit und Jugend und Lebensveränderungen trotz aller Unwahrscheinlichkeiten lernen wollen und die Lust haben auf ein immens gut geschriebenes Buch und eine äußerst spannende Geschichte, die aufgespannt zwischen verschiedenen Lebenswelten, beide Wertkanons dieser Welten (China und Großbritannien) dadurch neu einliest und relativiert.

Xiaolu Guo ist erst bei Adoptiveltern zwei Jahre gewesen und von dort dann bei den leiblichen Großeltern, wohin das Kind gebracht wurde, da die Adoptiveltern zu wenig Nahrung für alle drei von ihrem bäuerlichen Dasein hatten. Das Aufwachsen bei den Großeltern war nicht wirklich nahrungsreicher und ist von Kargheit und der Allgegenwart von Gewalt, insbesondere im Leben der Großmutter, gekennzeichnet. Erst später lernt Xiaolu Guo die eigenen leiblichen Eltern kennen und ist gezwungen mit ihnen von einem Moment auf den anderen im Alter von 8 Jahren in die Provinzhauptstadt umzuziehen, um fortan dort und zum ersten Mal zur Schule zu gehen. Die Verbindung zur Mutter ist angespannt und wird es ein Leben lang bleiben, die zum Bruder fremd, nur zum Vater gibt es irgendetwas wie eine entfernte künstlerische Verbindung. Trotz aller Widrigkeiten und extrem schwierigen Lebensbedingungen, dem Fehlen von liebevoller Zuneigung, Interesse und Förderung in der eigenen Familie und der Stadt gelingt es Xiaolu Guo so etwas wie einen eigenen Weg immer wieder neu zu versuchen – in der Schule, dann später in Peking in der Filmhochschule und von dort aus dann noch später nach London kommend mit einem Stipendium. Ein höchst beeindruckender Weg, vor allem aber ein unglaublich berührendes, mich in seinem Teilen, seinen Perspektiven und seinem Wortwitz bereicherndes Buch, welches durch die Ehrlichkeit, die ich in es hineinlese, einen tiefen Eindruck auf mich macht.
Die Schilderung des eigenen Lebens besticht durch diese Ehrlichkeit immer wieder neu. So zieht sich wie ein roter Faden das explizite Ansprechen von sexualisierter Gewalt und den immer wieder brutalen Beziehungen zu Männern durch das Buch sowie ein Ansprechen davon, was dies mit Xiaolu Guo gemacht hat, welche Wirkungen dies auf Lebensentscheidungen und -möglichkeiten hatte und hat. Es finden sich zudem sehr spannende Diskussionen dazu, was Liebe sei, in welchem Verhältnis Liebe zu Sexualität steht und wie stark Einlesungen und Vorstellungen von unterschiedlichen kulturellen Sozialisationen geprägt sind. Die chinesische Kulturrevolution wird ebenso kritisch diskutiert in Bezug auf die durch sie vertretenen Werte wie der britische Kapitalismus.

Was sonst noch?

Am Ende des Buches geht Xiaolu Guo auf die Entstehung des von ihr geschriebenen Bestsellers ‚A concise Chinese-English Dictionary for Lovers‘ ein, ein auch sehr empfehlenswertes Buch – und auch diese Entstehungsgeschichte des Romans ist höchst spannend und ehrlich geschrieben. Xiaolu Guo macht deutlich, dass sie herkömmliche Kategorien sozialer Zuordnung wie Nationalität, Familie und Beruf für sich aus vielen Gründen im Laufe des Lebens abgelegt hat – ein auch konstruktivistisch zu lesendes Manifest dessen, wie das eigene Leben verstanden und erzählt werden kann. Höchst lesenswert!

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