Tanja Maljartschuk (2019): Blauwal der Erinnerung. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Cover des Buches

(c) KiWi Verlag

Für wex zu lesen?
Für Menschen, die die Verwobenheit von Geschichten in historischer Perspektive mögen. Die das Ineinandergreifen von Geschichten auch erzählerisch schön umgesetzt schätzen. Für Menschen, die sich selbst phasenweise nicht raus trauen aus ihren Zimmern und Wohnungen und in ihren eigenen Ängsten gefangen sind und mit diesen zurückgezogen leben – und Lust haben dazu eine erzählerisch schöne Darstellung zu lesen. Für alle, die eine wunderschöne poetische Ausdrucksweise schätzen. Für alle, die mehr über ukrainische Geschichte lernen wollen.

Es gibt sie nicht, die Nation an sich. Sie ist gegründet, ideologisch gerechtfertigt, von einzelnen Personen reklamiert und argumentiert. Sie bleibt aber brüchig. Dies habe ich mit dem Lesen von ‚Blauwal der Erinnerung‘ noch mal neu und eindringlich verstanden – hier in Bezug auf die Ukraine, von der ich bisher, zugegeben, so gut wie gar nichts wusste. Der Roman besteht aus zwei sich abwechselnden und aufeinander bezogenen Strängen: die Geschichte von Wjatscheslaw Lypynskyj, einem ukrainischen Begründer und der Geschichte der Ich-Erzählerin, die die Geschichte dieses Menschen versucht zu rekonstruieren für sich. Die Ich-Erzählerin, in einer Beinahe-Jetzt-Zeit lebend, verlässt ihre Wohnung nicht mehr und vertieft sich immer mehr, mit einem zufälligen Beginn, in die Geschichte von Wjatscheslaw Lypynskyj. ‚Wieso gerade er‘, ist die Ausgangsfrage des Romans, die die Ich-Erzählerin zu Beginn nicht zu beantworten weiß und die sich durch den Roman zieht, der immer wieder kleine Fäden möglicher Antworten miteinander verwebt. Brilliant die Darstellung ziemlich zu Beginn, wie über die Form von Nachrichten Wirklichkeiten geschaffen werden. Es geht ums persönliche Überleben und um die Idee von etwas Größerem, wofür es sich lohnen könnte zu brennen. Es geht um Verzweiflung (Ich-Erzählerin) und das Festhalten an einem Projekt (Wjatscheslaw Lypynskyj), dessen eigenes Projekt so absurd und fragil, so gewaltdurchzogen wirkt – die Erfindung und Begründung einer Nation. Die Ich-Erzählerin gibt sich ganz dem Erforschen dieser Geschichte hin – mit allen schalen Nebenmomenten, die dazugehören, wenn sie beispielsweise es schafft zum Wohnhaus von Wjatscheslaw Lypynskyj zu fahren ohne dadurch eine größere Nähe zu ihrem Forschungsobjekt zu bekommen. Wjatscheslaw Lypynskyj gibt sich ganz der Idee der Ukraine hin und verliert dabei und darin den Kontakt zu seinen Nahpersonen – oder vielleicht hatte er ihn auch nie und träumt immer seltener und melancholisch davon. Auch davon handelt der Roman, wie eigene Gefühle und Sehn_Süchte verpackt und für sich selbst unzugänglich in den Tiefen des eigenen Körpers und Krank-Werdens aufbewahrt werden können, wo sie rebellieren oder schimmeln – beides Bilder des Romans.

Was sonst noch?
Es ist eine traurige Geschichte und in ihrem schönen Schreibstil eine schön-traurige Geschichte, berührend und unendlich poetisch, mit vielen wichtigen Gedanken zur Absurdität von Nationenbildungen und der Gewalt, die damit einhergeht und normalisiert ist. Das Motiv des Blauwals kommt selten vor – es hätte für mich noch stärker den Roman durchziehen können. Denn die Stellen, wo es vorkommt, sind warm und schön. So aber schwebt der Blauwal als Bild der Erinnerung etwas losgelöst über der Geschichte. Auch das ist vielleicht einfach nur schön.
Der Roman ist unbedingt empfehlenswert zu lesen – in seinem wunderschönen Schreibstil und seiner berührenden Verwebung von Geschichten des Leben-Wollens.

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