Léonora Miano (2013): La Saison de l’Ombre. Paris: Grasset.
Für wex zu lesen?
Menschen, die mehr lernen wollen zu Kolonialgeschichte und nicht erinnerten, nicht erzählten und vielleicht auch nur schwer erzählbaren Geschichten der Versklavung von Menschen und was dies mit Gesellschaften und Gesellschaftsordnungen machen kann. Menschen, die Lust haben sich auf eine Erzählung einzulassen, die viele Normalitäten dazu, wie Leben verstanden werden kann, Zusammenleben, gesellschaftliche Gefüge, herausfordert.
Wie geht es eine Geschichte über eine historische Situation – die Versklavung und Verschleppung von Menschen – zu schreiben und zu erzählen, zu der es keine historischen Zeu*ginnen gibt, weil alle in einer konkreten Situation ermordet, wortlos, verschleppt, isoliert und zugerichtet worden sind in und durch Versklavung? Weil es keine schriftliche Überlieferung gibt und eine Zerschlagung von Gemeinschaften, ihren Ritualen, Sprachen und Tradierungen von Erinnerungen? Wie ist es möglich eine Geschichte zu erzählen, die also nicht von Menschen verschriftlicht und auf diese Weise tradiert worden ist? Wie kann eine solche Geschichte zu transatlantischem Handel von durch weißen Menschen versklavten afrikanischen Personen aus den (fiktiven, versklavten und ausgelöschten) Communities heraus erzählt werden – mit allem Nicht-Wissen und Gewalt-Erleben und allem dies nicht einordnen können? Mit diesen Fragen lese ich den Roman von Léonora Miano, diese Fragen sind durch das Lesen des Romans bei mir entstanden und mit einer Geschichte gefüllt worden. Es gelingt dem Roman in meiner Wahrnehmung eine Perspektive zu entwickeln, die ganz die Perspektive von Menschen einnimmt, die in einer zahlenmäßig kleinen Gemeinschaft leben und die auf einmal mit einer gewaltvollen Situation konfrontiert sind. Es hat gebrannt in dem Dorf, welches das Zentrum des Romans ist. Und nach dem umfassenden Brand waren 12 männliche Personen verschwunden, zehn davon Jungen, die gerade einen Initiationsritus zum Erwachsen-Werden durchlaufen sind. Keine Person weiß, wo sie sind und es gibt sehr schnell verschiedene Vermutungen und auch Schlussfolgerungen: Waren es böse unbestimmte Mächte? Waren es die Mütter, Frauen also, die einen Fluch auf und über ihre Kinder realisieren? Sie sind zusammen in einer Hütte des Dorfes, um zu trauern. Statt sich aber zu verbinden, entstehen Misstrauen und gegenseitige Isolierung dort. Das Unfassbare und die Gewalt ohne direkt benennbare Akteu*rinnen im Dorfalltag wird schnell einer der weniger machtvollen Gruppen innerhalb der Gemeinschaft zugeschrieben, um kollektiv damit einen Umgang zu finden. Alleine schon diese Ausgangssituation in dem Roman ist sehr dicht und spannungsgeladen. Auf der Suche nach Ursachen werden verschiedene Einzelpersonen und auch Gruppen nach innen und außen losziehen, um sich über mögliche Ursachen des Verschwindens der zwölf Personen im Klaren zu werden – und so letztendlich der Gemeinschaft wieder Stabilität zu geben. Wichtig sind hier die Visionen und Träume, die Einzelne haben, in unterschiedlich machtvollen Positionen und diese teilen oder verbergen. Die Riten und Rituale eines Umgangs mit schwierigen Situationen innerhalb der Gemeinschaft, die Glaubenssätze und Machtverhältnisse und -kämpfe werden hier sehr spannend aufgefächert. Die Erzählung folgt im weiteren Verlauf verschiedenen Akteu*rinnen und eröffnet so eine vielschichtige Perspektive und unterschiedliche Handlungsdimensionen in dieser schwierigen Situation. Verschiedene der Suchbewegungen führen letztendlich in die Gemeinschaft, die am nächsten an dem Dorf situiert ist – doch auch hier gibt es zunächst keine Klarheit, welche Verquickungen es gibt und welche Personen genau wie gehandelt haben. Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass es sich um den Raub von Menschen handelt, um diese an weiße Kolonisatoren über einen Zwischenhandel mit einer Küstenbevölkerung zu verkaufen. Gleichzeitig ist dies nur der Beginn der Gewalt. (Ohne so zu machen, als wäre dies der Ursprung von Gewalt: Auch hierzu werden spannende unterschiedliche Spuren eines uneingrenzbaren Beginns gelegt.)
Wie Léonora Miano es schafft, diese Situation herzustellen, einen Blick nach innen zu richten, sich in die Logik einer (fiktiv narrativ geschaffenen) Gemeinschaft zu versetzen und diese sprachlich herzustellen, eine Gemeinschaft, die mit dem Konzept ‚Meer‘ genausowenig anfangen kann wie mit der Vorstellung es gäbe noch andere Menschengruppen außerhalb der eigenen und der benachbarten Gemeinschaft, ist unglaublich beeindruckend geschildert. Auf diese Weise wird zugleich auch die Unglaublichkeit der Brutalität der Versklavung von Menschen schmerzhaft deutlich. Wo, wann und wie ist der Punkt oder der Prozess, wo der Wunsch nach Beherrschung Anderer, ihrer Ausbeutung und dem Absprechen eigener Würde und Entfaltungsmöglichkeit in das Leben von Menschen und Gemeinschaften kommt? Der Roman gibt unglaublich berührende und beeindruckende Einblicke in die Mechanismen von Macht und Gewalt und den Grundsätzlichkeiten von Kolonialismus sowie der Unfassbarkeit und des vielschichtigen Umfangs kolonialer Gewalt.
Unbedingt lesen!
Was sonst noch?
Die Romane von Léonora Miano sind alle nicht ins Deutsche übersetzt. Auch ihre Essays bisher nicht. Eine große Lücke.
Der Roman ist inspiriert durch einen Report über eine konkrete Situation der Versklavung von Menschen und dem Aufschreiben einer Geschichte, wie sie mündlich in einer Gemeinschaft tradiert worden ist. Aus diesem Report leitet Léonora Miano diese eindrückliche und grundlegende Geschichte ab.
Unbedingt lesen!