Imbolo Mbue (2017): Das geträumte Land. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Cover des Buches

(c) Kiepenheuer & Witsch.

Für wex zum Lesen zu empfehlen?
Für alle, die spannend geschriebene Bücher mögen und Geschichten von zwischenmenschlichen Zusammenhängen, die sich im Laufe einer Geschichte entwickeln. Für Menschen, die die Verknüpfung von sehr unterschiedlichen Leben und die Bedingtheit sehr unterschiedlicher Lebensbedingungen, die durch Rassismus und Sexismus geprägt sind, an einem konkreten Beispiel nachvollziehen wollen. Für Personen, die sich über Kapitalismus und die damit einhergehenden heterosexistischen und rassistischen sowie migratistischen Normen und Zurichtungen Gedanken machen wollen und dies anhand einer konkreten Geschichte nachvollziehen wollen.

Die Rahmenerzählung ist schnell erzählt: Jende ist aus Limbe, Kamerun, nach New York, U.S.A. gezogen und nach den drei Monate Touri-Visum nicht zurückgegangen. Stattdessen versucht Jende arbeitstechnisch Fuß zu fassen, um dann auch Neni und Liome, Frau und Sohn, nachkommen zu lassen. Sie wollen sich ein neues, geträumtes Leben aufbauen in den U.S.A. Nach zwei Jahren kommen die beiden über ein Studi-Visum von Neni auch in die U.S.A., und der gemeinsame Kampf um ein erträumtes Leben im geträumten Land, der Versuch eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, beginnt.
Das Buch begleitet dieses Suchen und Kämpfen von Neni und Jende, in Kapiteln mal aus der Perspektive von Jende, mal von Neni erzählt. Alles erscheint hoffnungsvoll, ein beginnender Weg nach ‚oben‘, als Jende über Beziehungen Chauffeur bei einem führenden Banker von Lehman Brothers wird. Neni arbeitet hart an einem College-Abschluss, um dann das erträumte Pharmaziestudium beginnen zu können. Gleichzeitig arbeitet sie als Altenpflegehelferin. Der Sohn Liome wird darauf eingeschworen, wie wichtige seine Leistungen in der Schule sind, um ein erträumtes Leben erreichen zu können. Mit der Begegnung der U.S.amerikanischen Finanzoberschicht – Jendes Chef Clark – und seiner Familie – Neni darf mal einen Monat als Haushaltshilfe relativ gut bezahlt im Sommersitz der Familie aushelfen – geht auch die Spannung beim Lesen einher, ob und wie Neni und Jende es schaffen sich so einzupassen, dass sie ‚Erfolg‘ haben können. Jede Regung der beiden, die vielleicht nicht nahtlos in Unauffälligkeit den Vorgesetzten gegenüber mündet, versetzt mich beim Lesen in Angst, dass der Traum vom Ankommen in die U.S.A. platzen wird. Wie stark habe ich diese weißen kapitalistischen Normen ‚richtigen‘ Verhaltens also verinnerlicht – und re_produziere sie so lesend? Wie wenig glaube ich, dass es ein überleben-ermöglichendes Normsystem geben könnte, jenseits dieser kapitalistischen Norm, die ich ja eigentlich kritisiere? Beim Lesen begegne ich mir so mit meinen eigenen internalisierten Normen skeptisch und nachdenklich.
Der Roman zeigt die Unausweichbarkeit von Kapitalismus auf – und wie sehr dieser das Leben sowohl in den U.S.A. als auch in Kamerun prägt. Er macht deutlich, wie stark Kapitalismus zu (Hetero)Sexismus und Rassismus führt bzw. darauf aufbaut – egal, wie privilegiert oder diskriminiert Menschen in Bezug auf Rassismus, Staatsbürger*innenschaft oder Sexismus sind. Die im Roman aufgemachten Überschneidungen immer gleicher Lebensmodelle mit den ihnen innewohnenden und normalisierten Gewalt wird bis zum Ende höchst spannend erzählt.

Was sonst noch?
Für mich hätte das Buch gerne 40 Seiten früher enden können, um auf diese Weise eigene innere Erzählungen beim Lesen zu ermöglichen und eine noch stärkere Auseinandersetzung damit, welche Visionen (oder Dystopien) ich glaube oder habe. Auch habe ich eine gewisse Befürchtung, dass das Ende konservativ und migrationsfeindlich eingelesen werden könnte. Dies sind aber tatsächlich nur untergeordnete Punkte dazu, dass ich den Roman als äußerst wichtig, spannend erzählt und hervorragend für eigene Reflexionen zu Kapitalismus, Rassismus und Heterosexismus finde.
Der Roman bietet fast unendliche Möglichkeiten für eigene lesende Auseinandersetzungen zu internalisierter Diskriminierung von Diskriminierten und Privilegierten, lokalen wie regionalen Zusammenhängen und der Interdependenz von Gewaltstrukturen. Als weiß privilegierte Person eröffnet er Räume zur Reflexion eigener Normalitäten und Handlungen und ihrer potentiell diskriminierenden Effekte. Gleichzeitig habe ich hier jetzt nur einen kleinen Ausschnitt all der Fragen und Perspektiven erwähnt, die das Buch beim Lesen eröffnet.
Unbedingt lesenswert! Hervorragend geeignet zusammen mit anderen zu lesen zum Diskutieren.

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