Francesca Melandri (2018): Alle, außer mir. Berlin: Wagenbach.

Cover des Buches

(c) Wagenbach Verlag

Für wex ist das Buch?
Für diejenigen, die mehr über die Verflechtungen von Kolonialismus mit der heutigen italienischen, von dort auch übertragen westeuropäischen Situation lernen und verstehen wollen. Für Personen, die gerne komplexe historische Romane mit Bezug zu heutiger Zeit lesen. Für Menschen, die sich mit ihren eigenen Geschichten, Privilegien und Diskriminierungen in Bezug auf Kolonialrassismus mit Hilfe einer spannend erzählten Geschichte beschäftigen wollen.

Auf einmal steht eine Schwarze Person vor der Tür und sagt, Sohn des Bruders der weißen mittelalten Wohnungsbesitzerin in Rom zu sein. Von dieser Ausgangssituation aus entfaltet der Roman eine komplexe Geschichte italienischen Kolonialismus in seiner historischen Dimension sowie in den aktuellen Auswirkungen und Effekten auf Einzelne, Geflüchtete und die gesamte Gesellschaft. Die den Roman durchziehende Handlung ist die Suche der Hauptperson nach den Fäden der eigenen Familiengeschichte – insbesondere der Geschichte des sich ins Vergessen zurückgezogenen Vaterfigur, der am Anfang des Romans – und am Ende der Geschichte, die kein Ende ist, gestorben ist. Historisch genau aufgearbeitet eröffnet der Roman viele Einzelheiten italienischen Kolonialismus, die im kollektiven Gedächtnis eher – das wird auch schnell klar – ‚vergessen‘ worden sind. Und so sterben in dem Buch sehr viele Menschen – bzw. sie kommen gewaltsam zu Tode, werden versklavt, ausgebeutet, individuell und kollektiv ermordet und alles das ist mithin nicht einfach in seiner Massivität zu verarbeiten beim Lesen und umso wichtiger zu erzählen und zu spüren – wie die westeuropäische heutige Realität aufs Engste verbunden ist mit kolonialen Politiken, die, gerade auch weil sie nicht reflektiert worden sind, bis heute massive tödliche und exkludierende bzw. privilegierende Auswirkungen haben. Die im Mittelpunkt stehende Tochter eines Mannes, der wohl offenbar und sich erst langsam eröffnend in der Recherche, auch in Äthiopien noch einen Sohn hatte, macht in ihrer Aufarbeitung des eigenen Lebens und das ihres Vaters deutlich, wie einfach es mithin war für Privilegierte Teile der eigenen Geschichte und die Grundlagen eigener Privilegierungen nicht zu spüren oder zu reflektieren. Die Doppelbödigkeit des eigenen Seins wird zugleich auch in und durch die vor allem durch Sex gekennzeichnete Heterabeziehung der Hauptfigur mit einem rechten Politiker noch mal in der Jetzt-Zeit und den hier und heute getroffenen Entscheidungen für das eigene Leben gespiegelt.
Der Roman besticht durch unendlich viele kluge und nachdenklich machende Themensetzungen zu Macht, Gewalt, Flucht, Grenzverschiebungen ins Innere eines Landes und in das eigene Denken, Klientel-Politik und dem für die Hauptfigur langsam beginnenden Reflektieren eigener weißer Privilegien in ihren subtilen aber manifesten Wirkungen. Die weiße Autorin Francesca Melandri hat hier vielleicht auch einen eigenen Reflexionsprozess erzählerisch zugänglich gemacht.
Lesenswert!

Was sonst noch?
Der Roman ist hervorragend geeignet für Lesegruppen, um gemeinsam Kapitel für Kapitel sich mit eigenen Erfahrungen und Positionierung in und zu Kolonialismus und Rassismus zu beschäftigen – mit Diskriminierungen wie mit dem eigenen Mitwirken im Fortbestehen von rassistischen Strukturen als weiße Person. Anstrengend ist die Nicht-Reflexion von Heterosexismus in dem Roman, der sich subtil aber unablässig äußert, zum Beispiel in unhinterfragten Attraktivitätsvorstellungen in Bezug auf Frauen, Rollenverteilungen und diskriminierten Selbstbildern. Eine komplexere Miteinbeziehung auch dieser Ebene struktureller Gewalt hätte den Roman umfassender in seinem Plädoyer gegen Gewalt aus einer weiß privilegierten Perspektive gemacht.

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