Annie Ernaux (2008): Die Jahre. Berlin: Suhrkamp.

Cover des Buches

(c) Suhrkamp Verlag

Für wex ist das Buch zu lesen zu empfehlen?
Für Menschen, die eine Geschichte der französischen letzten 80 Jahre lesen wollen aus Perspektive einer Frau, die genau diese Zeitspanne in Frankreich gelebt hat. Für Menschen, die über ihr eigenes Leben und Erleben des eigenen Lebens nachdenken wollen auf der Grundlage eines genialen Textes, in dem die Gesellschaft, die strukturellen Bedingtheiten des eigenen Lebens mit ebendiesem und durch eine Erzählung von diesem in ihrer Verwobenheit erzählt werden.

Der Roman – oder die Biografie? – beginnt mit dem Stakkato-haften Erzählen von Bildern, die wie Dias im Gedächtnis der erzählenden Person kurz aufblitzen und die sie so vor dem Vergessen bewahren will. Die Bezüge sind französisch, ich erkenne die meisten nicht.
Nach diesem Einstieg wendet sich die Erzählung privaten Fotos zu, die nacherzählt werden und jeweils als Ausgangspunkt einer Darstellung einer bestimmten Zeit- und Lebensepoche dienen. In diesem so über acht Jahrzehnte erzählten Leben werden die subtilen Veränderungen von Alltagsleben anschaulich und eindringlich verdeutlicht: was gibt es zu kaufen und welche Rolle spielt es, wie ist die Stellung ‚der Frau‘ in der Gesellschaft und wie wird es argumentiert, was wird unter Sexualität verstanden, wie wichtig ist Familie, Herkunft, Bildung.
Zentral ist die wiederkehrende eindringliche und eindrückliche Kapitalismuskritik und Klassismus-Auseinandersetzung. Das Buch führt so plastisch und deutlich vor, wie Kapitalismus und damit verbunden Konsum das westeuropäische Selbstverständnis von Menschen verändert, ihre Erzählungen, ihre Haltung und Handlungen. Es wird langsam und klar erzählt, wie sich Zeit- und Raumvorstellungen verändern, die Idee von Erinnerung, die Rolle von archivierbaren und inneren Bildern. Die anfängliche Euphorie aus der Provinz in den Pariser Speckgürtel zu ziehen und dadrin die Freiheit und die Möglichkeiten eines erfüllten Lebens zu finden weicht mit der Zeit der Erkenntnis der Austauschbarkeit von Leben in verkapitalisierten Staaten, der Logik von Bedürnfis-Schaffungen und dem ständigen, zum Scheitern verurteilten Versuch diese zu erfüllen. Alles erweist sich als verbunden (Kolonialismus und französischer Kapitalismus), vieles als erschreckend beliebig oder austauschbar (wie der Wohnort und die wiederkehrenden Wahlen verschiedener Staatspräsidenten und die damit verbundenen Hoffnungen).
Das Buch eröffnet die Möglichkeit das eigene Leben in größeren zeitlichen und politischen Zusammenhängen zu verstehen, was nicht immer gerade freudvoll, immer aber erkenntnisreich ist. Es ermöglicht einen kritischen Blick auf eigene Lebensentscheidungen, auf eigenes Sich-Wichtig-Nehmen und ganz individuell und bietet zugleich Verständnis für die eigenen und zugleich kollektiven Kämpfe. ‚Die Jahre‘ ist eine große und überaus überzeugende Kapitalismus-Kritik, die Auswirkungen auf das eigene Leben und Selbstverständnis haben kann.

Was sonst noch?
Der collagenhafte Stil äußerer und innerer Bilderzählungen, die sich eskalierenden Aufzählungen kapitalistischer Absurditäten und die sich langsam verändernden eigenen Fragen und Bedürfnisse – das ist nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch genial gemacht und ein großes und wichtiges Leseerlebnis.
Absolut empfehlenswert und wichtig zu lesen! Einzigartig in der Verbindung von Individuum und Struktur!

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